Der Besuch der alten Dame

  • Du siehst müde aus, wie du da so vor mir stehst. Deine Gestalt ramponiert, das einst so prunkvolle Kleid aus teurem Brokat, das sie dir angezogen hatten, um dir noch mehr Würde zu verleihen, zerrissen und verdreckt – gezeichnet von den unzähligen Gefechten und hässlichen Übergriffen.
    Nein - die, denen du im Wege standst, schonten dich nie. Doch du bist ihnen entgegengetreten – furchtlos und an kriegerischen Mitteln oft weit unterlegen. Die brauchst du nicht, deine Waffen sind anders. Unsichtbar und für diejenigen, die dich nicht verstehen wollen, umso schmerzlicher. Sie richteten nie Schaden an, brauchen als Beleg ihrer Wirksamkeit weder Zerstörung noch Tod.
    Wie oft haben sie sich dein Kleid angezogen und gemeint, dadurch ebenso deine mächtigen Armeen hinter sich scharen zu können - und immer wieder sind sie an ihrer eigenen Illusion gescheitert. Denn die Macht ist etwas, was du nicht in der Hand einzelner akzeptierst, das du behutsam auf die Schultern aller legst.
    Dein besorgterer Blick ängstigt mich – ich weiß, sie haben etwas geschaffen, was dir Unbehagen bereitet. Deine Stärke ist die Trägheit, denn sie macht dich in deinem Wesen so schwer einnehmbar – du kannst wanken, aber dich zum Fallen zu bringen, ist schwierig. Doch aus dieser Tugend drehen sie dir nun einen Strick: Denn um zu strahlen brauchst du Zeit – und die haben sie uns genommen. Täglich, stündlich, ja sekündlich werden wir informiert, was uns alles zu bekümmern hat. Das Abwägen zwischen Bedeutsamen und völlig Unwichtigem fällt zusehends schwerer, denn es gibt keinen Filter – wer am schnellsten oder am lautesten schreit, wird von den meisten gehört. Für Differenzierung bleibt keine Zeit, dadurch würden wir viel zu viel verpassen, denn wir sind ständig und mittlerweile auch überall erreichbar.
    Ja, meine Liebe, du bist wohl etwas aus der Mode gekommen. Deine ohnehin schon seltenen Gedenktage feiern immer weniger Menschen - leider finden dich gerade viele der Jüngeren und damit unsere Zukunft nicht mehr besonders cool. Und dennoch möchten viele dich zu immer mehr Entscheidungen heranziehen. Ich fürchte, dann hat das Unbedachte, haben die Schnellen und die Lauten wohl noch mehr Einfluss.
    Wie schön du bist! Jetzt, wo ich mir Zeit genommen habe, dich wieder einmal in Ruhe anzusehen - dein vernarbtes Gesicht, deine zotteligen graumelierten Locken, die sich um deinen noch immer imposanten Körper ranken. Nein, man sieht dir dein Alter noch immer nicht an! Und hinter diesen traurigen Augen kann ich es jetzt auch wieder blitzen sehen: Dieses verschmitzte, siegessichere Lächeln macht mir Mut.
    Ich danke dir für mein Leben in Freiheit und verspreche dir, alles zu tun, dass man dich nicht noch einmal für lange Zeit verbannen wird!

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  • Wow, sehr, sehr gut! Schade, das man nur einmal liken kann!

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