Wieviel Mensch verträgt Mensch?

  • Auf der Suche nach Antworten auf die Frage - Wieviel Mensch verträgt Mensch? -, stieß ich tatsächlich auf absolut nichts, ein kommunikatives Vakuum. Wird denn tatsächlich in der Öffentlichkeit nicht über diese Frage diskutiert? Ich kann es kaum glauben.


    Woran mag es liegen? Wieviel Mensch verträgt die Natur, der Hund, der Eisbär etc. wird vollumfänglich diskutiert und erreicht zT globale Ausmaße. Auch wenn die Soziologie als eigenständige Wissenschaft reklamiert, "sich mit der empirischen und theoretischen Erforschung des sozialen Verhaltens zu befassen und die Voraussetzungen, Abläufe und Folgen des Zusammenlebens von Menschen zu untersuchen", fehlt meines Erachtens genau diese Frage. Vielleicht fehlt es auch an eigenen Möglichkeiten, diese genauer zu recherchieren.


    Mir geht es dabei nicht um pathologisch bedingte Ansätze, die diese Frage im Sinne extremer Kontaktarmut beantworten könnte, sondern eine eher im Alltäglichen angesiedelte Fragestellung.


    Während meine Workshops drängt sich mittlerweile die Frage all zu oft auf. Allem voran stehen Kommunikationsformen mit zum Teil irrwitzigen Auswüchsen. Natürlich könnte Ruth Cohens Axiom <Störungen haben Vorrang> aus der "Themenzentrierten Interaktion (TZI)" als Lösung angelegt werden. Doch scheinen auch im privaten Umfeld mehr und mehr oberflächliche Verhaltensweisen umzugreifen, die von Freundschaften reden und Belanglosigkeit meinen. Zu viele Kontaktmöglichkeiten, zu viele Kontakte die bedient werden wollen oder reine Faulheit nach dem Motto, der andere meldet sich schon, sind ja nur ein paar Klicks?


    Meine privaten Projekte treibe ich mittlerweile allein an, obwohl einige "Menschen" aufzuzählen wären, die Feuer und Flamme während intensiver Ideenfindung waren. Wochen/Monate später sieht die Welt anders aus. Zu häufig sind Verhaltensweisen immanent, wenn neue Ideen diskutiert werden, die ich als "Initialzündung" beschreibe. Manchesmal bleiben Funken länger stehen, oft verlöschen diese kurze Zeit später. Doch sehr selten bis garnicht entwickelt sich daraus ein "Ongoingverhalten", welches nachhaltig für Interaktion sorgt. Es fehlt allenthalben die Fähigkeit, Spannungsbögen aufrecht zu halten.


    Im Vordergrund scheint die Maximierung sämtlicher Lebensbereiche zu stehen, die im täglichen Erleben nur und ausschließlich das in den eigenen "Slot" passende Verhalten (aus)nutzt, um sogleich den nächsten anzusteuern, diesem wiederum passendes zu entlocken. Angebote werden, soweit sie der eigenen Bequemlichkeit dienen, gern angenommen, scheint ein Tenor der Zeit zu sein. Erwiderung? Fehlanzeige!


    Nichts bleibt außer Erinnerungen. Positive sind verinnerlicht, andere vergraben. Und doch blitzen dies in den Tag hinein, wenn wiedermal mein Einsatz verlangt, doch weder erwidert, noch "ausgeglichen" wird. Es kommt einem Wischmob gleich, der Probleme entfernt, kurzzeitig gute Gefühle spendet und diese nach kontaktloser Zeit erneut mit tief menschlichen Problemen vor der Tür stehen oder entsprechendes regelmäßig in Foren posten. Man hilft ja gern. (Hat nichts mit diesem Forum zu tun)


    Mich kotzt es mittlerweile an, wie viele Menschen mich/uns beanspruchen (wollen) und nicht im Mindesten an weiteren Treffen, Interaktionen oder Ideen interessiert sind, noch in der Lage scheinen, Spannungsbögen aufrecht zu halten. Sehr ambivalent das Ganze. Dabei ist diese "neue Oberflächlichkeit" tagespäsent. Unverbindlichkeit regiert im sozialen Miteinander als Tenor, nur nicht festlegen, es könnten besseres Angebote kommen.



    Allerdings fand ich einige Abhandlungen die im Ansatz die Fragestellung zu beantworten suchen.


    Hans Bertram (Humboldt-Universität zu Berlin) schrieb schon 1995 in seiner Ausführung "Individuen in einer individualisierten Gesellschaft" unter anderem:
    "Nach DAHRENDORF und BECK haben sich in der Moderne die Wahlmöglichkeiten und Chancen des einzelnen deutlich erhöht, einen befriedigenden Lebensstil zu finden, sich selbst zu verwirklichen und unabhängig von Tradition und Herkunft seine eigene Lebensperspektive zu leben. Das gilt besonders im modernen Wohlfahrtsstaat, der den einzelnen in hohem Maße gegen Lebensrisiken absichert. Diese Freiheiten, so die Ausgangsthese vieler Autoren, müssen im Bereich der privaten Lebensführung mit einem hohen Preis bezahlt werden, nämlich dem Verlust von Sicherheit und Stabilität privater Beziehungen."


    Und weiter:


    "Diese Bindungslosigkeit moderner Individuen wird einerseits als Voraussetzung postindustrieller Gesellschaften und andererseits als Risiko für die Individuen selbst gefaßt. Sie ist häufig mit einem hohen Maß an Orientierungslosigkeit oder zumindest Orientierungsverlusten der Individuen verknüpft. Der Verlust traditioneller Bindungen an die Herkunftsgruppe, etwa die eigene Familie, die Nachbarschaft, das Dorf oder die Region, kann dazu führen, daß sich der einzelne in seinen eigenen Lebensentwürfen und Lebensplänen nicht mehr an hergebrachten Werten und kulturellen Mustern orientiert.


    In die gleiche Richtung wirkt die hohe Mobilität, die vor allem junge Erwachsene betrifft. Das Individuum ist gezwungen, unabhängig von der Orientierung an der eigene sozialen Herkunft, den Sinn seines Lebens zu finden. Es muß seinen Lebensentwurf und seine Lebensperspektive selbst entwerfen. Da es aber in ausdifferenzierten Gesellschaften eine Vielzahl höchst unterschiedlicher, teilweise kontroverser Sinnentwürfe und Interpretationsmuster für die gesellschaftliche Entwicklung und die Zukunftserwartungen gibt, muß sich das Individuum aus den unterschiedlichen Sinnangeboten selbst seine eigenen Sinnmuster zusammenbasteln. Es gibt eben keine Sicherheiten mehr, um danach die verschiedenen Sinndeutungen auszuwählen."


    Vor dem Hintergrund des erwähnten zusammenbasteln eigener Sinnentwürfe mutet es nicht Wunder, wenn tägliches Miteinander in Banalitäten, kurzen Austauschen und Smilies als Ersatzgefühle münden. Allerdings liegen Bertrams Beobachtungen zwanzig Jahre, also fast eine Generation zurück. Sollten nicht mittlerweile Erfolge sichtbar werden oder zumindest Veränderungen erkennbar sein? Der Anschein drängt sich auf, das Ausmaß heutiger Individualisierung hat längst nicht seinen Zenit erreicht. Ganz im Gegenteil erscheint mir täglich eben diese als Mittel zum Zweck eingesetzt, selbst das punktuelle Miteinander auszunutzen und das für einen, aus meiner Sicht, eher zweifelhaften Zugewinn. Das hohe Maß an Individualisierung löst langsam und sicher sämtliche Bande stabiler Beziehungsmuster auf. Kaum ein Teilnehmer meiner Workshops oder Trainings lebt in eben solch einer stabilen Beziehung, Singleleben hat Vorrang. Dies äußert sich sehr deutlich im allgemeinen Abgrenzungsmiteinander.


    Und aus eigener Erfahrung werden "Freundschaften" kurzzeitig aktiviert wohl in der Hoffnung die schnelle Lösungen (kostenlos) zu ergattern. Es mag zynisch anmuten, aber ich sehe kaum jemanden im nahen Umfeld, der nicht diesem Verhalten erlegen ist.


    Daher frage ich, wieviel Mensch verträgt Mensch? Tendentiell entwickelt sich die Gesellschaft zur Individualität. Beziehungen haben kaum noch Bestand, zerbrechen oder werden unverbindlich erneuert. Wie oft höre ich die Worte: "Das war mal mein Freund, meine Freundin, lebe jetzt allein". Nicht jeder Mensch ist geeignet, diesen Lebensstil zu führen. Allenthalben beginnt der Rückzug aufgrund von Kontaktmangel, Cyberfreunde rücken in den Vordergrund. Doch diese sind kaum in der Lage, lebenswichtige Beziehungsmuster zu ersetzen. Ein gefährlicher Kreislauf beginnt, der allzuoft in Depression endet. Genau an diesem Punkt verträgt Mensch kaum noch Mensch.



    In diesem Sinne....

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  • Puh, viel Text und dabei schneidest Du gleich mehrere Themen an.


    Heute fühle ich mich nicht mehr in der Lage auf alle Aspekte einzugehen.


    Daher erlaube, das ich Dein Thema noch erweitere: Du hast es schon angeschnitten, aber soziale Kompensation ist ein großes Thema. Wenn ich die Berliner so ansehe, gibt es nichts größeres als Hunde und Autos. Das ist zumindest hier bei mir um die Ecke zu beobachten. In meinem Wohnhaus gibt es keine Familie, keine Paare. Aber Hunde, Autos (schicke Autos) und Katzen. Und Keller voller Verpackungen von digitalen "Luxusgütern".


    Sozialisation ist leider ein Problem, nicht nur hier in der Community.

  • Das erschlägt einen schon ein wenig ...


    Auf ein paar Basics, zu denen ich ähnliche Eindrücke bzw. auch zu meiner Art stehe, mag ich mal eingehen. Prinzipiell bin ich ein Mensch der Menschen mag, mich aber auch perfekt auf meine Individualisierung eingelassen habe. Ich breche eben einfach nichts vom Zaun nur um jetzt keinen Singlehaushalt mehr zu führen. Für festere Bindungen kann und will ich mich erst wieder richtig einlassen, wenn sich bei mir gewisse Störfaktoren langfristig verflüchtigt haben (da meine ich NICHT den Hund). Auf irgendwelche Affärchen mag ich mich generell nicht so ohne weiteres einlassen ... also trete ich vorab auf die Bremse. Alles was jenseits meines Verkehrsverbundes ist, da halte ich mich auch von vorn herein etwas bedeckter.


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    Ich lebe mittlerweile näher an der Arbeit und somit zu meinem alten Viertel komplett am anderen Stadtrand. Bedingt durch Hund und unterschiedliche Dienstzeiten sehe ich halt etliche nicht mehr so oft, aber ein spontanes Telefonat ist immer mal drinne.


    Aber die Freunde, die Basic Five, sind schon lange nicht mehr genötigt Spannungsbögen zu halten und das beruht auf Gegenseitigkeit. Denn da ist der Kern der Freundschaft ein gewisser Grad der Verläßlichkeit bei Problemstellungen einfach da zu sein - ob physisch aktiv und präsent oder auch nur mittels Zurverfügungstellung eines Ohres ...


    Bei noch in der Festigungsphase befindlichen Bekanntschaften ist das schon wieder ein anderes Thema. Entweder wird mehr daraus oder sie bleiben eben lockerere Bekanntschaften. Die durchaus auch gepflegt werden, aber sicher nicht mit der gleichen Intension, wie alte Freundschaften oder aktive Liebesbeziehungen.
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    Generell gilt, der Mensch hat beides innewohnen, daher ist auch und gerade bei Beziehungen immer ein eigener Ruhepol/Rückzugspunkt zu behalten und zu pflegen.

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